Erinnerungen sind wie kleine Sterne,
die tröstend im Dunkel unserer Trauer leuchten
Am 30. Juli 2005 veranstaltete der Arbeitskreis „Geschichte und Deutsche Ostsiedlungen“ im Nürnberger Haus der Heimat e.V. eine Busreise zum Schloss Cecilienhof in Potsdam, wo fast genau vor 60 Jahren, am 2. August 1945, die sogenannten „Potsdamer Beschlüsse“ gefasst wurden. Damit stellte Reiseleiter Reinhard Uhlmann, Sprecher des Arbeitskreises und Vorstandsmitglied des „Historischen Forschungsvereins der Deutschen aus Russland e.V. (HFDR)“, seine inzwischen achte unter einem historischen Motto organisierte Sommerfahrt auch diesmal unter einen besonderen Aspekt. Die „Potsdamer Beschlüsse“ hatten für die meisten 46 Mitreisenden fatale Folgen, denn sie hatten Tür und Tor zu einer bis dahin nicht gekannten Massenvertreibung geöffnet.
Im Händelhaus in Halle sind in zehn Räumen des Geburtshauses des Komponisten und des historischen Nebengebäudes unzählige Musikinstrumente und Sachzeugen aus Georg Friedrich Händels Zeit ausgestellt. Johann Sebastian Bachs Zeitgenosse feierte in diesem Jahr seinen 320. Geburtstag. Anschließend erfolgte ein kurzer Rundgang durch die größte Stadt Sachsen-Anhalts, die 2006 ihr 1200. Stadtjubiläum begehen wird. Aus dem Karolingischen Kastell hervorgegangen, verdankt sie ihre Entstehung und ihren frühen Reichtum den Salzquellen, an denen bedeutende Handelsrouten vorbeiführten. Die Stadt des Salzes ist als Zentrum der deutschen Frühaufklärung und des Pietismus bekannt. August Hermann Francke, der mit seiner Stiftung vor allem Armen und Waisen eine schulische Bildung ermöglichen wollte, zählt zu den bedeutenden Professoren, die an der Universität zu Halle wirkten. 1754 promovierte hier Dorothea von Erxleben, Hausfrau und Ärztin, und erlangte als erste deutsche Frau den Doktorhut an einer deutschen Universität.
Trotz nicht abgeschlossener Straßenarbeiten wurde der Markt von Halle mit der gewaltigen Marienkirche, in der 1546 Martin Luther predigte, dem Roten Turm und dem prächtigen Händel-Denkmal genossen. Anschließend gab es im Innenhof des Händelhauses, wo von den freundlichen Angestellten Tische und Stühle für ein ausgiebiges und geselliges Picknick aufgestellt wurden, wohltuende Erholung.
Auf dem Weg Richtung Berlin fuhr man an Siedlungen vorbei, in denen viele Deutsche aus Russland, hauptsächlich vom Schwarzen Meer, am Kriegsende geglaubt hatten, endlich eine Bleibe gefunden zu haben. Damals jung, saßen sie nun grauhäuptig im komfortablen Reisebus, wobei Erinnerungen wach wurden.
Als für Deutschland und Europa am 8. Mai 1945 nach einem langen und schrecklichen Krieg der herbeigesehnte Frieden begann, fing für viele Menschen erst die Zeit des großen Leidens, der Vertreibung und der Entwurzelung aus der angestammten Heimat an. Während Millionen Landsleute aus dem deutschen Osten sowie deutsche Minderheiten aus Ost- und Südosteuropa hinter die Oder-Neiße-Linie nach Westen getrieben wurden, ereilte die Deutschen aus der Sowjetunion ein besonders hartes Schicksal: Trotz der in den Jahren 1943 bis 1945 erfolgten Einbürgerung ins damalige Deutsche Reich, wurden sie in die Sowjetunion zurück verschleppt.
Nachmittags wurde die ehemalige Residenz der preußischen Könige, Potsdam erreicht. Hier genoss man entspannt die wunderschöne Gartenanlage des Schlosses Sanssouci, der größten ihrer Art in Deutschland. Auf der schlichten Grabplatte Friedrich des Großen lagen statt
Blumen einige Kartoffelknollen – zum Andenken an das durch den Preußenherrscher eingeführte Grundnahrungsmittel, das heute aus unserem Leben nicht mehr wegzudenken ist.
Am späten Nachmittag erfolgte die Unterbringung in dem neuen Hotel „Berliner Ring“, verkehrsgünstig und dennoch ruhig in Dahlewitz südlich der Hauptstadt gelegen. Man richtete sich auf zwei Etagen in geschmackvoll ausgestatteten Zimmern ein, um dort für drei bevorstehende Übernachtungen angenehmen Aufenthalt zu finden. Außerhalb, an den Fenstern und Balkontüren entlang, verlief ein langgestreckter durchgehender Balkon, der von allen Gästezimmern aus zu betreten war und in seiner dieser nicht alltäglichen Gestaltung sicher etwas für sich hatte. Man hielt sich dezent zurück, diesen Balkon entlang zu begehen und beim Vorbeilaufen in die Unterkünfte der Landsleute zu spitzen. Allein Otto S. stiftete am nächsten Morgen Verwirrung bei den Damen, die teils noch müde im Bett lagen oder bereits dabei waren, sich für den neuen Kurzurlaubstag hübsch zu machen. Dabei wollte unser treuer Reisekameramann nur den frühen und herrlich sonnig werden versprechenden angehenden Tag einfangen, als er mit der Kamera in der Hand in einer Seelenruhe an den Balkonfenstern vorbeikam und gelegentlich stehen blieb, seinen Blick in die Ferne gerichtet.
Im Bus sprach Adelheid Zogel, Mitglied des Arbeitskreise „Geschichte und Deutsche Ostsiedlungen“, den traditionellen Reisesegen. Anschließend wurde „Großer Gott, wir loben Dich“ gesungen, denn es war Sonntagmorgen. Die von Fahrt zu Fahrt immer dicker werdenden Liedermappen lagen griffbereit im Gepäcknetz.
Eine sympathische junge Dame führte die als erste angemeldete Reisegruppe durch das noch in Erwartung eines Touristenansturms ruhenden Schloss Cecilienhof. Dann standen alle in der historischen Stätte des „Potsdamer Abkommens“, wo seinerzeit das weitere Schicksal Deutschlands entschieden wurde. Für die Hälfte der Zuhörer hatte das lang herbeigesehnte Ende des Krieges einen sehr bitteren Beigeschmack, denn es war zugleich der Anfang der Verschleppung in entlegene Gebiete Sibiriens und Mittelasiens. Für jeden Sowjetdeutschen wurden damals 200 US-Dollar als Kriegsschuld für Deutschland gutgeschrieben. Über 250.000 Landsleute waren davon betroffen. Nur cirka 70.000 im Westen und 6.000 in der Sowjetzone konnten sich dieser grauenvollen Aktion entziehen. Viele der Betroffenen – damals um 60 Jahre jünger und fast noch Kinder, wischten sich ihre Tränen aus den Augen. Sie haben zu jener Zeit ein großes Trauma erlitten, das sie bis heute nicht verarbeitet haben. Eine ganz besondere Stille legte sich über die bunt gemischte und sonst herzlich lustige Reisegesellschaft, in der über Jahre gute Bekanntschaften geschlossen wurden. Banater Schwaben und Siebenbürger Sachsen, Schlesier und alteingesessene Franken sind dabei. Über jeden Einzelnen von ihnen hat der Zweite Weltkrieg auch persönliches Leid gebracht. Man konnte es deutlich spüren, ohne darüber reden zu müssen. Auch sie leben mit diesem Trauma und leiden darunter. Wir können dieses tiefe seelische Leid nur gemeinsam verarbeiten. Es war eine gut tuende Trauerstunde, die viel Zusammengehörigkeit aufzeigte, neues Verständnis für einander weckte und verkrustete Vorurteile auf beiden Seiten aufweichen ließ. Nach einem Gruppenfoto ernteten einige Frauen reife Malvensamen der ihnen im Garten noch fehlenden Blütenfarben. Vielleicht war es keine pure Sammelleidenschaft, sondern Erinnerung an diesen Ort, an dem die Weltpolitik ihr weiteres Leben vorbestimmt hatte.
Otto. S., 1931 in Hoffnungstal im Gebiet Odessa geboren, wurde im Herbst 1944 zusammen mit seiner Mutter und dem Bruder Ernst in Litzmannstadt eingebürgert und war nach Stechow nach Brandenburg gekommen. Kurz vor Kriegsende bekam die Familie den Totenschein über den im eingekesselten Breslau gefallenen Vater. Ende August 1945 stand die Rückführung in die Sowjetunion fest. Die Menschen wussten nicht recht, was mit ihnen passieren soll. Der Transport in den ungeheizten Güterwagen führte über Lwow und dauerte zwei Monate, bis der Bestimmungsort Archangelsk im hohen Norden erreicht war. Als die Mutter dort verhaftet wurde, musste Otto S. für seinen acht Jahre jüngeren Bruder sorgen. Er selbst war vierzehn und wurde zum Freischippen der Bäume vom Schnee eingeteilt. Ein Jahr darauf musste auch er Bäume fällen, wie ein Erwachsener. Schweißdurchdrungene Fußlappen froren in den übergroßen Schuhen ein. 14 Jahre hatte er gebraucht, um zusammen mit seinem Bruder von da wieder wegzukommen.
Über die Glienicker Brücke, auf der AVUS durch den Grunewald erreichte die Reisegruppe Berlin. Auf dem Weg zum Schloss Charlottenburg geriet Frau Margaretha M. plötzlich in Atemnot. Es waren Depressionen. Was stieg in dieser zurückhaltenden liebenswerten Frau auf, die mit vier Jahren ihre leibliche Mutter verlor? Sie war aus dem Wartheland im Alter von elf Jahren nach Sywtywkar in das Komi-Gebiet gekommen und dort zusammen mit zwei weiteren Geschwistern in ein Kinderheim eingewiesen worden. Seit bald 30 Jahren lebt sie inzwischen mit ihrem Mann, mit dem sie drei Kinder großgezogen hat, in Franken und erfreut sich an ihren sechs Enkeln, von denen fünf bereits in Bayern geboren sind.
Es folgten Kurfürstendamm, Potsdamer Platz, ehemalige Reichskanzlei an der Voss-Straße, unmittelbar dahinter das Holocaust-Denkmal, Brandenburger Tor, Unter den Linden, Gendarmenmarkt, Humboldt-Universität, Neue Wache, Schlossbrücke, Rotes Rathaus und das Nikolaiviertel, Urzelle von Berlin.
Neben dem Flughafen Tempelhof wurde am dritten Reisetag das Luftbrückendenkmal „Hungerkralle“ besichtigt. Als von der sowjetischen Besatzungsmacht alle Land- und Wasserwege blockiert worden waren, mit der Absicht ganz Berlin unter Kontrolle zu bringen, versorgten die Westmächte die Berliner fast ein Jahr lang über Luftwege. Den Widerstandswillen der West-Berliner Bevölkerung verkörperte in der Zeit der Berliner Blockade Oberbürgermeister Ernst Reuter. Die Wolgadeutschen kennen Ernst Reuter bereits aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, als er sich Lenin anschloss und in den 20er Jahren dass Kommissariat für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet leitete.
Im grünen Rasen des Reichstags war die beschädigte Stelle gut sichtbar, an der neulich ein Privatflugzeug abgestürzt war. Man nahm Platz im Plenarsaal des Deutschen Bundestages, um einen informativen Vortrag anzuhören. Anschließend sang ein Kirchenchor, der auch als Besuchergruppe angemeldet war. Von der Kuppel aus hatte man einen herrlichen Rundblick auf das neue Kanzleramt, auf die vor dem Bundestag unzähligen und in einer breiten Warteschlange anstehenden Menschen und auf die sich unendlich in allen Himmelsrichtungen erstreckende Weltmetropole. Über den Sitz des Bundespräsidenten, Schloss Bellevue, geht es zum Ku`Damm, wo selbstverständlich auch das KaDeWe (Kaufhaus des Westens) besucht wurde. Bei der ausgedehnten Stadtrundfahrt, die dann folgte, konnte man seine müden Glieder entspannen: Lehrter Bahnhof, der nach Fertigstellung der größte deutsche Bahnhof sein wird, Charite´, Museum für Naturkunde, die Neue Synagoge, Gedenkstätte Berliner Mauer an der Bernauer Straße, Bornholmer Straße, wo die Mauer zu „bröckeln“ begann, das prächtig renovierte Jugendstil-Viertel Prenzlauer Berg, Alexanderplatz und die ehemalige Stalin-Allee. Die „East-Side Gallery“ ist weitgehend verblasst. Der bemalte Mauerabschnitt wartet auf einen Neuanstrich durch Künstler, die ihren Mitmenschen etwas zu sagen haben.
Im gepflegten und wasserreichen Vorort Köpenick war im Rathaus für interessierte Besucher der Tresor geöffnet, aus dem sich seinerzeit der selbsternannte „Hauptmann von Köpenick“ großzügig bediente. Abends gab es im weitläufigen Wintergarten des Hotels ein großartig angerichtetes Buffet mit anschließendem Gesang und Tanz, zu dem eine interessierte Holländerin dazu stieß, um mehr über diese lustige Reisegesellschaft zu erfahren, die mit Volkliedern und Tanz ausgelassen Abschied von der Hauptstadt feierte.
Als Erholung von steten Treiben der Großstadt war am kommenden Vormittag eine dreistündige Kahnfahrt durch unzählige reizvolle Kanäle des Naturparadieses Spreewald mit dem Zentrum in Lübbenau vorgesehen. In zwei Kähne aufgeteilt, ließen ließ man sich durch die Staker unterhalten, die unversiegbare Geschichten aneinander reihten und ihre Boote fast lautlos geschickt durch die unendlich verzweigten Wasserwege schoben, auf beiden Seiten von liebevoll gepflegten Häuschen gesäumt, die sich in Gärten, voll bunt blühender Sommerblumen, tummelten. Kaffeepause gab es schon in Sachsen, an einem der schönsten königlichen Schlösser, in Moritzburg nördlich von Dresden. Die Autobahn führte an Dollenchen bei Finsterwalde vorbei, wo Frau Merzeline S. das Kriegsende erlebt hatte, bevor sie „repatriiert“ wurde, wie es damals hieß.
Gerhard Walter, Mitglied des Historischen Forschungsvereins der Deutschen aus Russland, stellte auf der Rückfahrt sein Buch „Lebendige Ahnen“ vor. In Stuttgart 1929 geboren, arbeitet er das Schicksal seines Vaters auf, dem nach dem Ersten Weltkrieg eine abenteuerliche Flucht aus Russland nach Deutschland gelungen war. Am Beispiel der Familie Walter erzählt er spannend 240 Jahre russlanddeutsche Geschichte von der Auswanderung bis zur Rückkehr der Spätaussiedler in ihre historische Heimat. Informationen zum Buch sind unter Guewalter@gmx.de zu bekommen. Es ist für alle Deutschen empfehlenswert, weil es Aufschluss über ein wichtiges Kapitel gesamtdeutscher Geschichte gibt. Zwei Exemplare stellte Gerhard Walter als Preise zur Verfügung für die Gewinner des Quiz, das jede dieser Reisen abschließt. Hätten Sie auch gewusst, wie viele Hauptstätte es in Deutschland gab, bevor es Berlin von 1871 bis 1945 war und seit 1991 wieder ist: A fünf, B zwölf oder C keine?
„Während ich die Liedermappen einsammelte, hörte ich im Hintergrund Anfragen wegen des nächsten Reiseziels im kommenden Sommer. Mein Mann und ich lieben diese Fahrten, die stets gut gelingen, weil jedes Mal großartige Menschen mitkommen!“
Lilli Uhlmann