„60 Jahre Flucht und Vertreibung“
Krieg… Grelle Blitze aus blauendem Himmel,
aus Tausenden Kehlen – der Schrei vereint.
Vernichtend die unwiderlegbare Wahrheit:
Er spricht MEINE Sprache, der mächtige Feind…
Krieg… Hart trifft er jede Familie.
Schon greift er nach dir, mir und unserem Sohn.
Es reißt unser Kleeblatt aus friedlichem Boden
Und wirbelt es wild gegen den Norden davon…
Mit diesen Zeilen der russlanddeutschen Autorin Nelly Wacker (geb. 1920) begann Dorothea Walter, Kulturreferentin der Ortsgruppe Nürnberg der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland, Mitte Dezember das landsmannschaftlich übergreifende Seniorentreffen „60 Jahre Flucht und Vertreibung“ im Gemeinschaftshaus Nürnberg-Langwasser. Es waren über 140 Vertreter verschiedener Landsmannschaften erschienen, um sich an die folgenschwere Zeit zu erinnern.
Den kurzen Einblick von Dorothea Walter in die Vertreibungsgeschichte in Osteuropa – „vor 60 Jahren waren Tausende und Abertausende Deutsche in Europa unterwegs, durch die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges sind sie heimatlos geworden“ – ergänzten die Zeitzeugen verschiedener Herkunftsländer mit ihren persönlichen Geschichten und Erinnerungen. „Wir haben fast das gleiche Schicksal, deshalb verstehen wir uns so gut. Wir müssen dafür sorgen, dass diese Geschichte der Vertreibung aufgeschrieben wird“, sagte die Schlesierin Adelheid Zogel. Die Erinnerungen des Künstlers Walter Ibscher, ebenfalls Schlesier, waren ein Plädoyer für die Frauen im Krieg: „Sie haben uns gerettet, die Brutalität muss aufhören“. Elisabeth Hegel von der LM der Banater Schwaben war fünf Jahre in den Arbeitslagern der Sowjetunion. Ihre Erinnerungen hat sie im Buch „Hinter Stacheldraht blühen keine Blumen“ niedergeschrieben. Auch Grete Schuster von der LM der Siebenbürger Sachsen hatte Schreckliches erleben müssen. Die Russlanddeutsche Pia Fix war gerade 16, als sie im Warthegau zur Weihnachtszeit 1944 um ihr Leben bangen musste. Nach Kriegsende wurde sie zusammen mit Tausenden anderen Landsleuten zurück in die sowjetische Verbannung geschickt. Symbolisch haben die Russlanddeutschen sogar zur Entlastung Deutschlands beigetragen: Für jeden Russlanddeutschen, der repatriiert wurde, bekam Deutschland 250 Dollar Nachlass von den Kriegsschulden.
Dr. Sieghard Rost aus der Pommerschen Landsmannschaft empfand das Kriegsende als „Eroberung und Zerstörung“. Der russlanddeutsche Johannes Kampen dagegen, in die Wehrmacht mobilisiert, konnte es als Befreiung feiern. Mit Blick auf das Schicksal der Russlanddeutschen machte er deutlich, dass deren Vernichtungs- und Vertreibungsgeschichte bereits mit den politischen Repressalien des Sowjetregimes begann.
Für die Russlanddeutschen in den Kriegs- und Nachkriegsjahren waren die deutsche Muttersprache und der Glaube Rückhalt, Symbol der verlorenen Heimat und der Hoffnung, sie irgendwann wieder zu finden. Mit Worten, die unter die Haut gehen, beschreibt Erna Hummel (1914-1988) in ihrem Gedicht „An meine Muttersprache“, das von der Journalistin Nina Paulsen verlesen wurde, die Tragödie der Volksgruppe und ihrer geschändeten Muttersprache so durchdringend, dass es wie ein einziger Schrei ist. Auch in der Familie von Dr. Anton Bosch, Vorsitzender des Historischen Forschungsvereins der Deutschen aus Russland, wütete die eiserne Hand des Sowjetregimes, der Krieg forderte noch zahlreiche Opfer. „Dennoch: Wir müssen uns über die Zeit hinaus aussöhnen“, sagte Dr. Bosch mit Blick auf das Denkmal der deutschen Opfer in Archangelsk/Russland, das mit Unterstützung des Hauses der Heimat, der Stadt Nürnberg und des Historischen Forschungsvereins errichtet und am 28. August 2004 eingeweiht wurde.
Bei sehr vielen Anwesenden hingen Weihnachtserinnerungen mit Krieg, Vertreibung und Heimatverlust zusammen. Trotzdem sind Advent und Weihnachten ein Fest der Nächstenliebe und der Friedensbotschaft. Mit den Liedern „Singen wir im Schein der Kerzen“ und „Sterne hoch am Himmel“ schlug der Kinderchor der Gruppe „Tintenklecks&Tausendfüßler“ (Integrationsprojekt der LM der Deutschen aus Russland) eine Brücke aus der Vergangenheit in die Gegenwart und somit in die Adventszeit. Gemeinsam gesungene Weihnachtslieder schufen ein gemütliches Beisammensein bei Kaffee und Plätzchen. Dafür hatte der Seniorenkreis der Ortsgruppe Nürnberg reichlich gesorgt. Spontan wurden Gedichte vorgetragen und Weihnachtswünsche ausgesprochen. Johann Kampen sorgte mit ernsten und scherzhaften Versen aus dem Leben der Spätaussiedler für heitere Stimmung, während Irma Bosch und Adelheid Zogel das Publikum eher besinnlich einstimmten: Weihnachten muss man im Herzen spüren.
Dorothea Walter