01.12.2016:

Dokumentarfilm von Marina Anselm über die „Ferne Heimat Karatau“

„Wie viel Zeit braucht es, damit ein Ort in die Seele einbrennt“

 Haus der Heimat Nürnberg: Marina Anselm präsentierte ihren Dokumentarfilm über die „Ferne Heimat Karatau“  

 Mit ihrem Dokumentarfilm „Wind in meinem Haar – Ferne Heimat Karatau“ hat die russlanddeutsche Regisseurin und Autorin Marina Anselm (Buch, Regie, Produktion) aus München schon an verschiedenen Präsentationsorten die Herzen der Zuschauer tief berührt. Nach der Premiere in Herford vor 200 Zuschauern, je zur Hälfte aus Russlanddeutschen und Einheimischen, den Filmvorführungen im Detmolder Museum für russlanddeutsche Kulturgeschichte und im Gerhart-Hauptmann-Haus in Düsseldorf, war sie am 1. Dezember 2016 nun auch in Nürnberg zu Gast. Das Nürnberger Haus der Heimat hatte die Regisseurin zur Filmpräsentation eingeladen.

Auch hier war das zahlreich erschienene Publikum gemischt und Landsmannschaften übergreifend – Vertreter anderer Landsmannschaften, die unter dem Dach des Hauses der Heimat beheimatet sind, zeigten ebenso großes Interesse wie die Deutschen aus der ehemaligen Sowjetunion. Auch wenn die wenigsten der Zuschauer aus der Region (Südkasachstan bzw. Karatau) stammten, konnten die allermeisten die Gefühle und Emotionen der Protagonisten hautnah nachempfinden. Vor allem, weil jeder, der die alte Heimat schon mal verlassen musste – freiwillig oder erzwungen, das Gefühl des Heimatverlustes und der Sehnsucht nach dem verlassenen Ort kennt.

In ihrer Dokumentation erzählt Anselm die Geschichte ihrer Mutter Melitta, die Hauptprotagonistin des Films. Gleichzeitig geht sie der Frage nach Verwurzelung und Identität nach und dokumentiert dabei ein Stück russlanddeutscher Geschichte, die sich mit all ihren Facetten auch in einem Ort wie Karatau abspielte: Deportation und erzwungene Entwurzelung 1941, das neue Leben und die Verwurzelung in der Fremde in Kasachstan, die allmählich zur Heimat wurde, eine erneute Auswanderung und Entwurzelung – jetzt freiwillig, und schließlich die Suche nach neuer Identität im Land der Vorfahren – die alte Heimat blieb jedoch im Herzen. Wie tief, zeigten erst die Reise nach 25 Jahren und der Film, der all diesen Spuren nachgeht. Die Frage „Wie viel Zeit braucht es, damit ein Ort in die Seele einbrennt“, die in der Dokumentation stets sichtbar oder auch unsichtbar mitschwingt, beantwortet jeder unterschiedlich – auch weil jeder andere Erfahrungen hat.

Nach der Filmvorführung erzählte Marina Anselm über die Entstehung des Films und beantwortete die Fragen der Zuschauer. Sie studierte Diplom-Journalistik an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und absolvierte ein Auslandsjahr an der Staatlichen Lomonossow-Universität Moskau. In den Jahren 2008-2012 wirkte sie an einigen Filmproduktionen als Produktionsassistentin mit und studierte seit 2011 Dokumentarfilm und Fernsehpublizistik an der Hochschule für Fernsehen und Film München. Der 44-minütige Dokumentarfilm „Wind in meinem Haar“ ist eine Gemeinschaftsproduktion von Marina Anselm, Bayerischem Rundfunk/ARDalpha und der Hochschule für Fernsehen und Film München. Voraussichtlich im Frühling dieses Jahres soll er auch im Fernsehen gezeigt werden.

Der Film ist auch für Marina selbst ein Wiedersehen mit dem Ort ihrer Kindheit Karatau in Kasachstan. Hier wurde sie 1982 geboren und kam 1990 als Kind mit ihren Eltern nach Deutschland. 2006 war sie dort zum ersten Mal nach der Auswanderung. Als ihre Mutter ankündigte, nach 25 Jahren die alte Heimat besuchen zu wollen, stand die Entscheidung für die Tochter fest: „Wenn ich den Film jetzt nicht mache, dann nie.“

„Die Themen Migration, Integration, Heimat und Verwurzelung beschäftigen und betreffen mich auch persönlich“, erklärt Anselm. Der in jeder Hinsicht berührende Film geht unter anderem auch den Fragen nach: Warum ist es vielen so schwer gefallen, sich in die deutsche Gesellschaft zu integrieren, obwohl sie sich als Deutsche verstehen? Warum fällt es noch heute vielen schwer, sich einem Land, einer Kultur, einer Identität zuzuordnen? Die Dokumentation gibt darauf keine direkten Antworten. Aber sie lädt dazu ein, die Protagonistin zu begleiten auf ihre Reise an den Ort, den sie vor 25 Jahren mit ihrer Familie verlassen hat. Ihre Erzählungen nehmen den Zuschauer mit in die einstige Welt der Russlanddeutschen, in ihre Kultur, ihre Werte und ihre Emotionalität. Das einst deutsche Viertel „West-Berlin“ ersteht so vor den Augen der Zuschauer wieder auf, auch mithilfe von beeindruckenden Schwarzweiß-Fotografien aus der Sowjetzeit.

Auch für Melitta Anselm bedeutet der Film zuerst eine Seelenwanderung und Annäherung an eine fremde Heimat nach 25 Jahren. Sie will noch einmal den Fuß auf die kasachische Steppenerde setzen, in die ihre Eltern im Zweiten Weltkrieg vertrieben wurden, noch einmal vor ihrem alten Haus stehen, noch einmal das Grab ihres Vaters besuchen, noch einmal den sanften Steppenwind spüren. Sie kommt an einen Ort, der ihr näher ist, als ihr jemals bewusst war.

Zutiefst beeindruckt von der uneingeschränkten Gastfreundlichkeit der ehemaligen Nachbarn und Stadtbewohner (davon waren übrigens auch die Zuschauer in Nürnberg stark beeindruckt) – und das in einem Ort, der nach der Auswanderung der Deutschen und Koreaner (die Bevölkerung hatte sich halbiert) in großen Teilen wie eine Geisterstadt aussieht, merkte sie ganz schnell, wie stark sie noch an dieser alten Heimat noch hängt. Auch nach einem Vierteljahrhundert fühlt sie sich, als ob sie nach Hause zurückgekehrt sei.

Nina Paulsen

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