„Die Stimme der Deportierten“
Die Union der Vertriebenen Nürnberg hatte zum Vortrag ins Haus der Heimat geladen. Horst Göbbel referierte am 11. Januar 2010 unter dem Titel Die Stimme der Deportierten zum Thema Die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller und ihre „Atemschaukel“.
In seiner Begrüßung berichtete der UdV-Vorsitzende Werner Henning über Aktuelles zu Erika Steinbach und dem freien Sitz im Stiftungsrat der Bundesstiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“. Nach dem Hinweis, „heute vor 65 Jahren“, habe in Siebenbürgen die Aushebung der zur Deportation vorgesehenen Deutschen begonnen, führte Horst Göbbel zunächst gründlich in die Geschichte und Regularien der Verleihung des Nobelpreises ein und stellte fest, dass Herta Müller mit ihren 57 Jahren noch sehr jung für so eine gewichtige Auszeichnung sei. Unter den mit Bildern aus Medien vorgestellten Reaktionen auf die Verleihung des Nobelpreises waren auch die von Bundeskanzlerin Angela Merkel und Marcel Reich-Ranicki. Der Referent hatte eine Fülle von Titelseiten mit der Verkündigung des Nobelpreises an Herta Müller parat, auch aus Rumänien und von der Homepage der HOG Nitzkydorf, des Heimatortes der Nobelpreisträgerin. Sogar der Haarschnitt von Herta Müller wurde ausgiebig in den Medien kommentiert. Das Publikum konnte anschließend mehrere Videopassagen sehen, die Herta Müller vor ihrer Haustür nach Bekanntwerden der großen Auszeichnung, in Stockholm bei ihrer Vorlesung, bei der Pressekonferenz sowie bei der Preisverleihung mit Schwedens König zeigten.
Die tiefe Freundschaft Herta Müllers zum berühmten siebenbürgisch-sächsischen Dichter Oskar Pastior, mit dem sie 2004 das Arbeitslager Nowa-Gorlowka besuchte, in dem der 17-jährige Pastior fünf Jahre das Schicksal tausender Deportierter teilte, ließ den Entschluss reifen, gemeinsam ein Buch über die Deportation zu schreiben. Da Oskar Pastior überraschend 2006 starb, erarbeitete Herta Müller das Buch alleine. Dieses Werk, das unter dem Titel Atemschaukel im Sommer 2009 erschien, war möglicherweise ausschlaggebend für die Nobelpreisverleihung 2009 an Herta Müller. Göbbel zitierte aus der „exzellenten Buchbeschprechung“, die Michael Markel zur Atemschaukel noch vor Bekanntwerden des Literaturnobelpreises in der SBZ im September 2009 veröffentlichte. Schon hier wird deutlich gezeigt, welch überragendes Kunstwerk Herta Müller zustande gebracht hat. Die Autorin schafft eine Hommage an den „Freund und Stichwortgeber“, sie stattet den Erzähler im Roman (Leo Auberg) mit biografischen Elementen Oskar Pastiors aus. Im Roman wird prägnant ausgeführt, dass in der verkehrten Welt des Lagers tatsächlich nichts mehr im Kopf ist als das Wissen, dass „Kälte schneidet, Hunger betrügt, Müdigkeit lastet, Heimweh zehrt, Wanzen und Läuse beißen“. Die alles beherrschende Lagerpein, führt Markel aus, ist der Hunger gepaart mit der allgegenwärtigen Fremdbestimmung. Die Traumata, die das Lager auf Lebenszeit auslöst, führen dazu, dass der Heimkehrer zwar mit den Füßen nach seiner Rückkehr daheim, aber auf Dauer zu Hause nur im Lager bleiben kann. Dann las Göbbel eine Passage aus dem Buch („Interlope Gesellschaft“), die deutlich macht, woher die Deportierten stammten und wie auch der Zufall manchen Menschen in die Deportation geschickt hatte. Die sprachliche Kompetenz der Nobelpreisträgerin wurde an der Passage zu Irma Pfeiffers Tod im Kapitel „Eintropfenzuvielglück für Irma Pfeifer“ verdeutlicht. Der Referent rundete den Vortrag mit einem Videoausschnitt zur Preisverleihung des Franz-Werfel-Menschenrechtspreises am 1. November 2009 in der Frankfurter Paulskirche an Herta Müller ab, in dem man die ganze Ansprache von Erika Steinbach, der Präsidentin des BdV, verfolgen konnte. Unter anderem bemerkte sie, dass Herta Müller dem vielfältigen Schrecken von Deportation sensibel und schonungslos Ausdruck verliehen und damit den Opfern ein unvergängliches Denkmal gesetzt habe. So, wie die Atemschaukel von Herta Müller ein solches Denkmal für all die Deportierten in die Sowjetunion darstellt, meinte Göbbel, so möge das Deutschlandhaus in Berlin, ähnlich wie das Holocaustmahnmal, ein Mahnmal gegen jedwelche Art von Vertreibungen werden.
In der folgenden Diskussion wurde Herta Müller auch im Kontext ihres Verhältnisses zu den Landsmannschaften beleuchtet, ein Thema, das uns noch eine Weile beschäftigen wird.
Herner Henning dankte dem Referenten ganz herzlich für den interessanten Vortrag und verwies auf viel versprechende Vorträge, organisiert von der UdV an jedem zweiten Montag im Monat.
Doris Hutter