„Heimat kann überall sein. Wir entscheiden mit unserem Herzen, wo diese ist.“ – Lesung mit Katharina Martin-Virolainen in Nürnberg
Das Bayerische Kulturzentrum der Deutschen aus Russland (BKDR) und das Haus der Heimat (HdH) Nürnberg luden am 5. Dezember 2019 zur Lesung mit Katharina Martin-Virolainen unter dem Motto „Heimat kann überall sein. Wir entscheiden mit dem Herzen, wo diese ist“ ein. Die junge Autorin und Journalistin, die in Eppingen/Baden-Württemberg zu Hause ist, las aus ihrem ersten Buch „Im letztem Atemzug“, das 2019 im Verlag OSTBOOKS erschienen ist. Der Sammelband ist eine Dokumentation ihrer Suche nach Identität, Zugehörigkeit und der echten Heimat.
„Die Vergangenheit kann man nicht einfach so ablegen. Ich stehe zu meiner Herkunft in Russland“, sagte Katharina Martin-Virolainen gleich eingangs und traf damit offensichtlich auch bei so manchem im Publikum den wunden Punkt. Zur Lesung konnten Annette Folkend vom HdH und Artur Böpple, Mitarbeiter des BKDR und Vorsitzender des Literaturkreises der Deutschen aus Russland e.V., viele Interessierte aus Nürnberg und Umgebung begrüßen, darunter mehrere ehrenamtlich Tätige aus verschiedenen Verbänden bzw. Landsmannschaften, die unter dem Dach des Hauses der Heimat beherbergt sind.
Als Autorin hat Katharina Martin-Virolainen inzwischen einen festen Platz im Literaturkreis der Deutschen aus Russland e.V. gefunden. Ihre Kurzerzählung „Und wenn die ersten Schneeflocken auf unser Land fallen“, in der sie ihre ersten Erfahrungen im zuerst fremden Deutschland reflektiert (Katharina ist gerade elf, als sie 1997 mit ihren Eltern nach Deutschland kommt), landete auf Platz 3 des Wettbewerbs am Bonner Institut für Migrationsforschung und Interkulturelles Lernen. „Im letztem Atemzug“ ist eine Sammlung von meist autobiografischen Erzählungen und Lebensgeschichten von Russlanddeutschen, denen Katharina eine Stimme geben wollte.
Mit Erkenntnis- und Gefühlsbeschreibungen, die in ihren Geschichten zum Ausdruck kommen, spricht sie vielen Landsleuten ihrer Generation, aber auch älteren Russlanddeutschen, aus der Seele. Bei Lesungen hat sie die Zuhörer schon mehrfach zum Weinen und zum Lachen mit Erzählungen gebracht, in denen sie ihre Erlebnisse in Kasachstan, Karelien und Deutschland verarbeitet. Nicht anders war es auch bei der Lesung in Nürnberg.
Mit ihrer Herkunft und Identität hat Katharina lange Jahre bis zum erwachsenen Alter innerlich gerungen: Geboren 1986 in Karelien (russischer Norden), Vater Deutscher aus Kasachstan, Mutter Tochter eines Finnen und einer Russin. Heute antworten sie auf die Frage, wer sie denn nun sei, ganz selbstbewusst: „Ich bin eine Deutsche mit finnischen Wurzeln und russischer Seele.“ Passend dazu las sie einen Auszug aus der Erzählung „Dreiecktanz“ – so sollte ihr Buch ursprünglich heißen – über ihre verworrene Herkunft, die in der Zeitlupe betrachtet einen tieferen Sinn hat.
Die Sprache, die Kultur und die Geschichte der Russlanddeutschen blieben ihr eine lange Zeit unbekannt und fremd. Bei Gastbesuchen im Heimatdorf ihres Vaters im deutschen Dorf Kamenka in Kasachstan begegnete sie zum ersten Mal der deutschen Sprache ihrer Großmutter und entdeckte ein Stück Heimat. In der Erzählung „Lebensspiel mit allen Sinnen“ erzählt sie über den Besuch in Kasachstan schon als Erwachsene. Ein Auszug daraus veranschaulichte ihre Empfindungen über die „Welt, die viele Jahre später, im fernen Deutschland, beinahe mein ganzes Leben bestimmen wird.“
Über verschiedene Heimaten, die im Herzen Platz finden und zu einer Identität zusammenfließen, geht es auch in der Geschichte „Teilchen meines Herzens“, ein Thema, das vielen Zuhörern nahe ging – schließlich mussten viele ihre „alten“ und „neuen“ Heimaten irgendwie zusammenbringen, um ein Ganzes zu werden. Spontan appellierte Katharina an die Zuhörer, die meisten gehörten zur älteren Generation der zugewanderten Deutschen: „Reden Sie mit ihren Kindern und Enkeln, erzählen Sie ihnen Ihre Geschichte, auch wenn Sie den Eindruck haben, sie hören nicht zu.“
In der Diskussion kamen die hierzulande lange umstrittenen Begriffe „Heimat“ und „deutsche Identität“ zur Sprache, die für die Deutschen im Osten eine Selbstverständlichkeit waren. Erst in den letzten Jahren sind diese Begriffe wieder entdeckt und neu bewertet worden. „Heimat kann überall sein. Wir entscheiden mit unserem Herzen, wo diese ist.“ – das Zitat, hier als Motto der Lesung, ist die „zehnte Lektion“ aus der Geschichte „Zehn Lektionen der Integration“.
Es gehe um ein „gesundes Selbstbewusstsein. Trotz unterschiedlicher Geschichtsverläufe zwischen den Deutschen aus dem Osten und den hiesigen Deutschen bleiben Sprache, Lieder, Brauchtum oder Essen das verbindende Element… Nicht die Unterschiede sehen, sondern Gemeinsamkeiten“, so Martin-Virolainen, die einen „waschechten“ Bayer als Lebensgefährten hat. Die Annäherung – weg vom Hass und Vorurteilen, hin zum gegenseitigen Verständnis und Vertrauen – sein oft langwierig und schmerzvoll.
Und dennoch: Die Vielfalt, die Zugewanderte mitbringen und die deutsche Gesellschaft dadurch bereichern, darf man sich weder nehmen noch verbieten lassen, brachte Katharina Martin-Virolainen den Gedanken zum Ausdruck, den sie in Zusammenhang mit den rechtsradikalen Tendenzen in Deutschland beunruhigend findet – Freiheit und Demokratie wollen verteidigt werden, man darf nicht wegsehen, wenn Unrecht geschieht. Mit dem selbstverfassten Gedicht „Selma Rosenbaum“, das genau diese Gedanken und Empfindungen zum Ausdruck bringt und das sie nur „bei besonderen Lesungen vorträgt“, schloss Katharina ihre Lesung ab.
Nina Paulsen